Ein spätes Review von DSA 4

Ein Review zur nicht mehr ganz taufrischen, aber nichtsdestotrotz aktuellen (und immer wieder heiß diskutierten) vierten Edition von DSA, Deutschlands nach wie vor wichtigstem Rollenspiel

Drei Vorbemerkungen

  1. Dieses Review ist lang – aber hoffentlich auch sinnvoll und nachvollziehbar.
  2. Für solche unter Euch, die es tatsächlich nicht wissen: „DSA“ ist die Abkürzung für Das Schwarze Auge, eine deutschsprachige Fantasy-Rollenspiel-Produktgruppe, die ursprünglich von der Firma Fantasy Productions entwickelt wurde, von 1984 bis 1997 im Verlag Schmidt-Spiele erschienen ist und inzwischen bei Ulisses-Spiele produziert und veröffentlicht wird.
  3. Ich behandle im folgenden die vierte Originaledition (DSA 4) und die überarbeitete Fassung der Regeln (DSA 4.1) als ein Ganzes. Das ist jedoch kaum undifferenziert, da es sich bei DSA 4.1 nicht um eine vollwertige Neuausgabe handelt und die Unterschiede zwischen den Versionen ausschließlich im Detail liegen.

Warum überhaupt?

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Zwei „zerlesene“ und „zerspielte“ Bände der Haupt-Regel-Box Schwerter & Helden (DSA 4) und ein praktisches Hardcover der überarbeiteten Version (DSA 4.1)

Die vierte Edition gibt’s nun schon seit 2001 (Basis-Box), und auch die 4.1 hat immerhin schon mehr als ein Jahr auf dem Buckel (das wichtigste/eigentliche Regelwerk – Wege des Schwerts – erschien im Oktober 2007). Beide Editionen habe ich gespielt, seitdem sie erhältlich sind. Und trotzdem jetzt noch ein Review? – „Warum“ ist da eine angebrachte Frage…

Der Hauptgrund ist sicherlich, dass DSA mir allgemein wichtig ist und mir eigentlich schon immer wichtig war. Es gibt keine Möglichkeit, das zu leugnen. Mit DSA habe ich auch gleichzeitig das Rollenspielen kennengelernt, als ich 1992 (noch zur Zeit der zweiten Edition) mein erstes Abenteuer gespielt habe. Seitdem war es immer sowas wie meine persönliche „Benchmark“ für jedes weitere Rollenspiel-System, das ich entdeckt habe. Das gilt natürlich sowohl für das Regelwerk als auch für die Spielwelt – den Kontinent Aventurien.

Aber ein wichtiger Grund ist auch, dass DSA nach wie vor große Bedeutung für die deutsche Rollenspiel-Landschaft und -Gemeinde hat. Jeder hat davon gehört, die allermeisten haben es wenigstens ein paar Mal gespielt und sich auch eine Meinung dazu gebildet. Kurz gesagt: Es ist auch für die meisten anderen deutschen Rollenspieler eine „Benchmark“.

Als „Rollenspiel-Blogger“ will ich natürlich Bezug nehmen auf das, was bekannt ist und womit die meisten Leser eigene Erfahrungen haben. Deshalb finde ich es wichtig, deutlich zu machen, was ich von der aktuellen DSA-Edition (und von ihrer überarbeiteten Fassung) halte. Basierend darauf lassen sich wahrscheinlich auch meine zukünftigen Artikel besser einordnen.

Anders (und kürzer) gesagt: Eine grundlegende Auseinandersetzung mit DSA gehört einfach in einen soliden und vernünftigen (deutschsprachigen) Rollenspiel-Blog. 😉

Teil einer deutschen Rollenspieler-Biographie

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Die für bisher alle DSA-Editionen benötigten Würfel (1W20 und 2W6) mit ihren jeweils idealen Ergebnissen

Meine Einstellung zu DSA hat sich quasi parallel zu meiner Erfahrung mit Rollenspielen allgemein verändert: Am Anfang war DSA das einzige (kommerzielle) Rollenspiel, welches für mich und meine Freunde wirklich Relevanz hatte. Dafür sorgte einfach die enorme Marktpräsenz von DSA, die es in Deutschland von sämtlichen anderen Rollenspielen von den achtzigern bis in die späten neunziger Jahre abhob. Es war das Rollenspiel, das im normalen Spielwarenladen stand und sogar in unserer kleinen Stadt (20.000 Einwohner) in seiner vollen Artikelvielfalt erhältlich war (über eine gewisse Zeit jedenfalls).

Regeln, Spielwelt, Charaktere, Schreibstil, Charakterbögen und Layout von DSA waren für uns einfach der einzige mögliche Weg, wie man ein Rollenspiel „richtig“ machen konnte. Meine frühen eigenen Rollenspielentwürfe – mit denen ich bereits sehr kurz nach Kennenlernen von DSA begann – waren komplett geprägt vom DSA-Stil (bezeichnend jedoch, dass ich trotz naiver DSA-Frömmigkeit bereits den Wunsch verspürte, neue Systeme und Welten und erschaffen). 1993 kaufte ich mir MERS, 1994 AD&D… Und seitdem war DSA nur noch ein Stern von vielen – ein besonders heller Stern, der immer leuchtete, aber andere waren auch hell und interessant… Schnell weg von dieser Metapher! 😉

Im Vergleich mit anderen Spielen und besonders auch mit eigenen Ideen und Entwürfen kamen schnell viele kritische Fragen auf, die ich an DSA stellte – vor allem an die Regeln, selten an Aventurien: Warum ist ein Zwerg ebenso ein „Typus“ (im Sinne von Helden-/Charaktertypus) wie ein Krieger, ein Streuner oder ein Magier? Warum sind „Rasse“ und „Beruf“ nicht übersichtlich voneinander getrennt und können nach Belieben kombiniert werden? Warum gibt es bei DSA kein Buch oder wenigstens ein Kapitel zum Spielleiten, für den (bei DSA) sogenannten „Meister“? Hätte man Talentproben nicht eleganter lösen können, als jedes Mal drei Eigenschaftsproben würfeln zu müssen? Warum wurde der Inhalt eines Regelwerks auf mehrere kleine Bände aufgeteilt, die sich schnell zu einer eigenen „DSA-Bibliothek“ entwickelten?

Dies waren alles (zum Teil recht exzentrische) Sonderheiten von DSA. Einige von ihnen wurden mit der dritten Edition des Spiels (eingeläutet mit der Box Mit Mantel, Schwert & Zauberstab) beseitigt bzw. durch sinnvollere Lösungen ersetzt. Aber es kamen auch neue hinzu (plötzlich bekamen alle Charaktere ganz undifferenziert noch weitere sog. schlechte Eigenschaften aufs Auge gedrückt), während sich manche – scheinbar stur – bis zum heutigen Tag erhalten haben (sämtliche Regelbücher haben klangvolle und oft dramatische Namen – Zauberbücher heißen Liber Cantiones oder Codex Cantiones, ein Ausrüstungskompendium kommt als Kaiser Retos Waffenkammer daher, und ein aktueller Band zur aventurischen Architektur schimpft sich Ritterburgen und Spelunken).

Doch DSA hat sich auf den Spieltischen gehalten und wurde in meinem rollenspielenden Freundes- und Bekanntenkreis trotz größer werdenden Interesses an anderen bzw. ausländischen Systemen entweder regelmäßig gespielt oder immer wieder als „solides und erprobtes Allwetter-Spiel“ hervorgeholt. Neue Spieler wurden ausschließlich über DSA an das neue Hobby herangeführt. Wie könnte man es ihnen auch anders zeigen als mit der begrenzten Auswahl an „Heldentypen“ aus dem Abenteuer-Basis-Spiel, mit genau 1W20, 2W6 und AT-/PA-Basiswerten?!? 😀

Deutsches Standard-Rollenspiel und Rollenspiel-Standard

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Im Laufe der Zeit und der verschiedenen DSA-Editionen gab es diverse Karten vom Kontinent Aventurien in Posterformat; hier eine Karte der 1. und eine Karte der 4. (aktuellen) Edition

Was aber hat zu diesem „Standard-Charakter“ von DSA geführt? Warum ist es für die meisten deutschen Rollenspieler (Behauptung!) das Spiel, mit dem man alle anderen vergleicht und gegen das sich alle behaupten müssen?

Gut, das Regelwerk war schon immer durchaus robust und – wenigstens von den Edition 1 bis 3 – auch verhältnismäßig intuitiv anzuwenden. Aber war es besonders gut? Ich denke nicht. Es war einfach nur offen, ungenau und zugleich detailliert genug, um niemandem zu doll auf die Füße zu treten.

Die Stärke von DSA aber lag (und liegt) bei seinem zweiten Hauptbestandteil: der Spielwelt. Der Kontinent Aventurien hatte schon immer die Grundeigenschaften, die ein erfolgreiches Fantasy-Rollenspiel-Setting braucht: klassische, „tolkienesque“ Rassen und Kreaturen in nicht zu stark vom Klischee abweichender Form sowie viele einfach zu erkennende Zitate aus der wirklichen Welt. Von großer Bedeutung war dabei sicherlich auch die Tatsache, dass Aventurien von vorneherein eine sehr „deutsche“ Spielwelt war, mit vielen deutschsprachigen Namen und Bezeichnungen, zahlreichen Anleihen aus deutschen Märchen und Sagen und einer zentralen Nation (dem Mittelreich), die wie ein Zwilling des Heiligen Römischen Reichs zur Zeit der Rennaissance wirkt. Warum ist das wichtig? Meiner Meinung nach, weil solche Elemente – ebenso wie die Fantasy-Klisches – auf etwas Bekanntes und Vertrautes bei den (größtenteils deutschen) Spielern zurückgegriffen haben. Bei Aventurien wusste man meistens recht gut, woran man war und wie man es „anpacken“ konnte.

Die aktuelle Edition

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Ein „semi-offizielles“ DSA-Fanzine mit der Region Thorwal als Schwerpunkt – daher auch der Titel Thorwal Standard

Wenn wir uns nun von der Entwicklungsgeschichte trennen und uns dem aktuellen DSA zuwenden, dann behaupte ich, dass Aventurien mehr denn je der Hauptbestandteil des Spiels ist: Aventurien ist inzwischen äußerst detailliert; in offiziellen Quellenbüchern und umso intensiver noch in dem zahlreichen Fan-Material findet jedes Kleinstdorf Erwähnung, und jeder noch so unbedeutende Adlige wird im Detail beschrieben. Natürlich, die Regeln haben sich auch weiterentwickelt: Während die Talentprobe zwar immer noch aus drei Eigenschaftsproben besteht, wird die Charaktererschaffung nun über ein Kaufpunkte-System geregelt, und es gibt sog. Sonderfertigkeiten als Pendants zu den Feats von D&D 3.

Wer außer DSA 4/4.1 noch irgendwelche anderen aktuellen Rollenspielsysteme kennt, der wird bemerken, dass die Regeln nun wahrlich nicht als besondere Stärke des Spiels bezeichnet werden können. Die neue bzw. aktuelle Edition hat zwar viele Änderungen mit sich gebracht und manche Dinge durchaus sinnvoller und schlicht besser geregelt (klare Zustimmung hier zu dem allgemeinen Charaktererschaffungssystem), aber so manches ist auch komplizierter, unhandlicher und unlogischer geworden (siehe in allen drei Punkten das Kampfsystem). Wer speziell GURPS und D&D 3/3.5 kennt, dem wird zudem sicherlich auffallen, dass DSA sich bei beiden stark an Ideen und Konzepten bedient hat, die jeweiligen Aspekte jedoch in keinem Fall so konsequent oder durchdacht umsetzt wie das Vorbild: Das Kaufsystem zur Charaktererschaffung ist bei GURPS um ein Vielfaches logischer und freiheitlicher, und das Charakter- und das Kampfsystem von D&D 3/3.5 zeigen, wie auf Strategie und Taktik ausgelegte Regeln wirklich aussehen sollten.

Schwachpunkt: Regeln

Überhaupt kann festgestellt werden: Den DSA-4/4.1-Regeln fehlt es an Konsequenz und einer klaren Prämisse. Der Leitgedanke der Entwickler war wohl: „Mit möglichst vielen Kompromissen machen wir auch möglichst viele Spieler glücklich.“ Daher versammeln sich in der aktuellen DSA-Edition Regeln, die ganz offensichtlich die unterschiedlichsten Rollenspieler-Typen ansprechen sollen: Sonderfertigkeiten und nach Spieleffektivität gewichtete Talentgruppen für die Strategen, Körperzonen- und Ausdauer-Regeln für Simulationsfreunde und möglichst viele Regeltexte mit der Markierung „Optional“, um regelkritischen Erzählspielern deutlich zu machen, dass man ja eigentlich auch mit nur einem Minimum an Grundregeln spielen kann.

Nun mag es tatsächlich Kompromisse in der Welt geben, die harmonisch sind. Bei Rollenspiel-Regelsystemen ist jeder größere Kompromiss zwischen unterschiedlichen Spielauffasungen (und entsprechende Regeln) jedoch entweder zum Scheitern verurteilt oder aber so schwierig zu erzielen, dass bisher noch kein wenigstens halbwegs harmonisches Ergebnis existiert. Die aktuelle Edition von DSA bildet da keine Ausnahme.

Bei eher oberflächlicher Betrachtung wirkt DSA 4/4.1 jedoch überhaupt nicht „disharmonisch“ oder „schlecht designt“ – denn erstens weist es tatsächlich einige interessante und sogar innovative Neuzusammenstellungen von Regelkonzepten auf und zweitens vermag ein solides bis gutes Layout der Bücher und sonstigen Materialien, diverse Probleme zu verschleiern. Eine nähere und kritische Auseinandersetzung mit den Spielmechanismen lässt einen erfahrenen Rollenspieler dann aber schnell das vorwiegende Scheitern des „Kompromiss-Designs“ und die daraus resultierenden spielrelevanten Unzulänglichkeiten erkennen.

Diese fallen am stärksten und häufigsten beim Kampfsystem auf – wie üblich bei Rollenspielen. Der erfahrene Spieler sieht hier ein beinahe durchweg unästhetisches und unstimmiges Flickwerk aus Designbemühungen, die versuchen, Realismus, Spielgleichgewicht, strategisch-taktische Momente, Detailliertheit, Modularität und Einfachheit unter einen Hut zu bringen. Das Resultat sind durchweg hoch abstrakte Regeln, denen man eigentlich eine Anleitung zum Verständnis der theoretisch-philosophischen Annahmen der Entwickler hätte beifügen müssen; im Spiel ist an vielen Stellen unkar, wie genau sich ein bestimmter Mechanismus in die Spielrealität überträgt, also was in der Spielwelt/in Aventurien eigentlich vor sich geht, wenn ein bestimmter Regel-Mechanismus zur Anwendung kommt. Auf solche „Übertragungsprobleme“ stößt man bei den meisten Rollenspiel-Systemen zwar wenigstens in einigen Teilbereichen, bei den DSA-Kampfregeln sind sie jedoch aufgrund des extremen Kompromisscharakters allgegenwärtig. Bei etwas anspruchsvolleren Spielern, die Wert darauf  legen, in ihrer Fantasie nachzuvollziehen, was am Spieltisch vor sich geht (und die nicht einfach die Regeln als ein eigenes separates „Spiel im Spiel“ ansehen, das unabhängig von der Erzählwirklichkeit der Kampagne besteht), verursacht das im besten Fall häufiges Stirnrunzeln, im Regelfall Verwirrtheit und Frustration, im schlimmsten Fall Verärgerung und Unlust am Spielen.

Zur scheinbaren Modularität von DSA 4/4.1 lässt sich sagen, dass die Grundregeln einfach aber schwammig sind und dass sie ohne die zusätzliche Benutzung der meisten Optionalregeln (oder ohne sehr starke Scheuklappen auf Spielerseite) wenig sinnvoll, logisch und praktisch sind. Das heißt, dass ein wiederum etwas anspruchsvollerer Spieler gar nicht auf die meisten Optionalregeln verzichten kann – denn sonst hat er ein Spielsystem, das wesentlich mehr Fragen stellt, als dass es Antworten gibt.

Das klingt natürlich alles ziemlich negativ. Und ja, ich gebe unverhohlen zu, dass ich die DSA-4/4.1-Regeln als Ganzes betrachtet nicht mag und sie für ein anspruchsvolleres Spiels als für ungeeignet und störend empfinde (gerade, wenn man bedenkt, welchen Ansprüchen Aventurien gerechet wird – aber dazu gleich mehr). Andererseits finde ich eine Reihe Regel-Ansätze und -Details sehr gut – doch das „Modul-System“ mit seinen optionalen Regeln ist leider bei weitem nicht ausgereift genug, um einem zu gestatten, sich einen DSA-Regelsatz aus genau diesen hochwertigen Einzelteilen zusammenzubauen; zuviel unsinniger Ballast muss mitgeschleppt werden, wenn man sich nicht ohnehin gleich ein eigenes System basteln will.

Nicht nur Schlechtes?

Das bisher Gesagte gilt hauptsächlich für die gesamten Kampf- sowie für einige Talentregeln (Fertigkeitsregeln) bei DSA 4/4.1. Aber was ist mit den anderen Teilbereichen der Regeln? Gibt es nicht vielleicht auch gute Aspekte? Wohlmöglich sogar Aspekte, die DSA von anderen Spielsystemen abheben?

Nun ja, es gibt ein vom generellen Ansatz her gutes Charaktererschaffungs- und entwicklungssystem, dem leider einige abwegige Design-Entscheidungen einen sehr faden Beigeschmack verleihen. Obwohl ein Spieler sich generell seinen Wunschcharakter mit Punkten (und ohne Zufallselemente) zusammenbauen und -kaufen kann, ist die Freiheit dank eines „Paketsystems“ an einigen Stellen deutlich eingeschränkt; trotz eines allgemein offen gehaltenen Kaufsystems gibt es nämlich vorgegebene Professionen (so die Bezeichnung des Berufs/der Klasse/der Karriere bei DSA 4/4.1) – was sich als unnötig und sogar kontraproduktiv zeigt. Viel weitsichtiger wäre es da gewesen, sich noch etwas stärker (und besser) vom GURPS-Kaufsystem inspirieren zu lassen und an Stelle von festen Professions-Paketen, die sich aufgrund exzentrisch verrechneter Punktekosten überhaupt nicht individualisieren lassen, schlicht exemplarische Charaktervorlagen anzubieten. Wer sich dann bei der Charaktererschaffung nicht zu viele Gedanken hätte machen wollen, hätte einfach die Vorlage übernehmen können, während der durchschnittliche Spieler die volle kreative Freiheit behalten hätte – mit den Vorlagen als allgemeine Orientierungshilfe.

Besser als bei manchen (nicht vielen, aber manchen!) anderen Rollenspielsystemen ist in der Tat das DSA-4/4.1-Magiesystem. Wenigstens das allgemeine, wie man hier schon wieder feststellen muss. Ein Astralenergie-Pool (also quasi „Zauberpunkte“), mit dem der Zauberer nach Bedarf ihm bekannte Formeln mit spezifischen Kostenbeträgen wirken kann, sorgt für eine spielerisch sinnvolle und zugleich glaubwürdige Freiheit. Zwar haben viele Magiesysteme eine sehr ähnliche Grundlage, aber ich erwähne es gesondert, weil der Rollenspiel-Hühne D&D auch in seiner dritten und vierten Inkarnation noch mit einer sehr abstrakt-technisch und unmystisch wirkenden täglichen Zaubereinprägung daherkommt. Aber zurück zu DSA: Die Magieregeln sind trotz fest vorgegebener Zauber (immerhin stattliche 266+ Zauber) angenehm detailliert und variantenreich. Jeder Zauber verfügt über allgemeine oder spezifische Möglichkeiten zur Modifikation und viel Hintergrundmaterial zu magischen Ritualen und Gegenständen erlauben es Spielerzauberern, sowohl in-game als auch out-of-game tief in die aventurische Zauberei einzutauchen. Vor diesem Hintergrund lassen sich magiebegabte Charaktere (sowohl SC als auch NSC) hervorragend ausgestalten und mit viel Substanz versehen.

Die generelle Talent-Basiertheit von DSA ist ja eigentlich eine sehr gute Sache (an dieser Stelle sei noch einmal schnell darauf hingewiesen, dass „Talent“ der DSA-Begriff für „Fertigkeit“ in den meisten anderen Rollenspielen ist). Es ist intuitiv, glaubwürdig und angenehm, dass man Kampftalente auf die gleiche Weise steigert wie z.B. Wissenstalente oder körperliche Talente. Dass auch die (eben diskutierten) Zauber dem gleichen Regel-Mechanismus folgen wie Talente, trägt noch mehr zu dieser hochwertigen Einheitlichkeit bei. Wieder einmal sieht die Sache jedoch durchwachsen aus, wenn wir die Details betrachten: Das gewöhnungsbedürftige Prinzip, dass für die Anwendung von Talenten (und entsprechend von Zaubern) jeweils drei Eigenschaftsproben gewürfelt werden müssen, hat bestenfalls einen nostalgischen Wert und stört bei intensiverer Regelnutzung durchaus manchmal den Spielfluss. Unverständlich und unintuitiv scheint in diesem Zusammenhang, dass Kampftalente in der Anwendung komplett anders funktionieren – die Talentwerte werden hier mit separat ermittelten Kampf-Grundwerten verrechnet, und es wird entsprechend nur eine Probe pro Anwendung durchgeführt. Zwar ist nachvollziehbar, warum die Entwickler hier nach einer Alternative zu drei Würfelwürfen pro Kampfhandlung gesucht haben, aber Sonderregelungen wie diese sind offensichtliche Design-Notlösungen; wesentlich eleganter wäre eine Umstellung des kompletten Talentsystems auf nur eine Probe gewesen.

Soviel zu den Regeln – und damit zu dem, was mir an DSA 4/4.1 nicht gefällt. Es mag vielleicht manchen erstaunen, aber ich halte die DSA-Regel-Editionen 1 bis 3 alles in allem für besser designt; sie waren zwar auch problembehaftet, und ein paar Dinge wurden in der vierten Edition tatsächlich verbessert, aber sie waren in sich stimmiger, intuitiver und wirkten – wenn auch bestimmt nicht mathematisch ausgewogener – besser (praktisch) erprobt.

Schokoladenseite: Aventurien

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„DSA goes Lustiges Taschenbuch“ – die Buchrücken der Quellenbücher zu den unterschiedlichen Regionen Aventuriens ergeben in richtiger Reihenfolge ein Motiv: den Kontinent Aventurien.

Nach diesem eher negativen Resümee meiner eigenen Spielerfahrung mit den DSA-4/4.1-Regeln nun zu dem, was mich über inzwischen bereits 17 Jahre immer bei DSA gehalten hat, dazu bewogen hat, viele offizielle DSA-Artikel zu kaufen und fast durchgängig in wenigstens einer regelmäßigen DSA-Runde zu spielen: Aventurien.

Wie schon gesagt ist der verhältnismäßig kleine Kontinent auf der Welt Dere (der Spielwelt von DSA) voller Fantasy- und (historischen) Real-World-Klischees – und das finde ich ganz großartig! 🙂 Natürlich gibt es auch zahlreiche spezifische und charakteristische Elemente, aber was Aventurien so faszinierend macht, sind letzten Endes die vielen bekannten und liebgewonnenen Bestandteile aus dem klassischen Mittelalter-Fantasy-Fundus sowie die vielen Anspielungen auf die wirkliche Welt. Komischerweise wirken diese Easter-Eggs und Zitate nicht kitschtig oder oberflächlich, sondern lassen Aventurien auf eine merkwürdige Art und Weise noch realer, intensiver und faszinierender werden.

Ich glaube, dass „Klischee-Spielwelten“ allgemein einladend sind, weil wir uns dort erstens – wie ja schon ausgeführt – schnell zurechtfinden (und bereits über ein gewisses Grundwissen verfügen) und weil sie uns zweitens eine solide (weil bekannte) Basis geben, um verschiedenste Arten von Abenteuern und Geschichten zu erleben; mit anderen Worten: Wenn das „Hauptsetting“ eine Klischee-Fantasy-Welt ist, lassen sich „Untersettings“ mit verschiedenen Genre-Elementen und unterschiedlichen Graden an Exotik relativ leicht miteinbeziehen, ohne sich jedoch abzunutzen.

Aber zurück zu Aventurien selbst: Neben dem hervorragend eingebundenen Klischee-Anteil ist die Detailliertheit des Spiel-Kontinents eine besonders positive Eigenschaft. Es gibt sowohl eine Reihe allgemeiner Quellenbücher als auch spezielle (umfangreiche) zu jeder größeren Region. Zwar variiert leider häufig die Dichte an Informationen zwischen den Bänden und innerhalb der Bände selbst (wohl vor allem, weil viele verschiedene Autoren mit vielen verschiedenen Spielauffassungen und Herangehensweisen daran gesessen haben), aber unterm Strich bekommt ein Spielleiter in den DSA-Welt-Quellenbüchern der vierten Edition mehr potentielles Abenteuer- und Kampagnenmaterial und mehr Inspirationen geliefert als in allen anderen mir bekannten Quellenbüchern anderer Produktfamilien!

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Seit 1985 erscheint der Aventurische Bote – mit einigen Unterbrechungen – alle zwei (irdischen) Monate. Es handelt sich um ein Magazin mit „inneraventurischen“ (in-game) und „irdischen“ (out-of-game) Texten, und als Zeitung kommt der Bote auch in der Spielwelt vor.

Aventurien wirkt so lebendig, wie eine Rollenspiel-Welt nur wirken kann – vor allem dank der Informationsfülle, nicht zuletzt aber auch dank dem zweimonatlich erscheinenden Magazin Aventurischer Bote (der die Entwicklung der Spielwelt unterstützt und vorantreibt) und dank der Zusammenarbeit der (offiziellen) DSA-Redaktion mit den Spielern. Seit der weiten Verbreitung des Internets tummeln sich dort etliche Fan-Projekte in Form von Websites – manche sogar mit „semi-offiziellem“ Status, deren Material von der DSA-Redaktion in offiziellen Publikationen berücksichtigt und verwendet wird.

Als Spielleiter könnte man nun argumentieren, dass sowohl die Informationsfülle als auch die offizielle Weiterentwicklung der Spielwelt (auf deren aktuellen Status sich jeweils neu erschienene Quellenbücher und Abenteuer-Publikationen beziehen) Eigenschaften sind, die Aventurien auch zu einer schwierig zu benutzenden Spielwelt machen. Schließlich muss sich der ambitionierte Spielleiter stark mit dem Hintergrund auseinandersetzen, sich Informationen aus unterschiedlichen Medien (Quellenbüchern, Abenteuern, DSA-Romanen, Websites etc.) beschaffen und regelmäßig den Aventurischen Boten kaufen und lesen. Während diesen Eindruck sicherlich die meisten DSA- und Aventurien-Neueinsteiger haben, stellt sich nach längerem Spielen und nach längerer Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Material irgendwann ein „gesundes Verhältnis“ zu der beinahe unüberschaubaren Palette an Produkten und Quellen ein: Ein DSA-Spielleiter (bzw. DSA-Meister, wie es ja immer noch so schön heißt) kann mit der Zeit recht gut einschätzen, welche und wie viele offizielle Informationen er für seine Version von Aventurien und seine Kampagnen und Abenteuer benötigt. Ein solcher souveräner Umgang mit dem vorhandenen Material ist dringend erforderlich, wenn man als Spielleiter einerseits Aventurien ernst nehmen und es als Hintergrund in selbstentworfenen Abenteuern angemessen zur Geltung kommen lassen möchte und wenn man andererseits seine Freizeit noch für etwas anderes verwende möchte, als in Quellenmaterial zu stöbern.

Das Argument, dass große Informationsfülle und häufige Aktualisierung auch nachteilig sein können, lässt sich letztlich nicht völlig entkräften: Einem Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach größtmöglicher Spielwelt- und Publikationstreue und dem Wunsch, auch großformatigere Eigenentwicklungen in Aventurien einzuarbeiten, wird sich auch ein erfahrener Spielleiter manchmal gegenüber sehen.

Fazit

Durchaus undifferenziert, aber trotzdem sehr zutreffend lässt sich meine Einstellung zu und meine Erfahrung mit DSA 4/4.1 folgendermaßen zusammenfassen: „Spielwelt hui (eine der besten überhaupt), Regeln pfui (inkonsequent, unintuitiv, umständlich).“

Persönlich habe ich aus dieser Sichtweise schon vor längerer Zeit eine Konsequenz gezogen: Inzwischen spiele ich nicht mehr DSA, sondern Aventurien; ich benutze ein selbstentwickeltes Rollenspiel-Regelsystem, um damit in – einem möglichst nah an der offiziellen Version orientieren – Aventurien zu spielen. Das ist durchaus nicht paradox, sondern meiner Meinung nach sehr angemessen: Ich kombiniere eine starke Spielwelt mit einem Regelsystem, das ihr gerecht wird.

7 Gedanken zu „Ein spätes Review von DSA 4“

  1. Ich hoffe, dass dieses Review schon als konstruktiv empfunden wird.

    Davon abgesehen versuche ich eben, deutlich zu machen, dass es sich bei DSA um ein relativ paradoxes Spiel handelt – mit einer hochdetaillierten und faszinierenden Spielwelt einerseits und einem durchwachsenen Regelsystem andererseits.

  2. Sehr gute Betrachtung, die meiner Sichtweise stark ähnelt. DSA 4 hat mich damals beinahe endgültig von diesem Rollenspiel vertrieben, erst „Von eigenen Gnaden“ hatte wieder mein Interesse geweckt. Die Romane zum Schwarzen Auge habe ich jedoch auch in der Zwischenzeit gerne gelesen, aber die Regeln… nein danke. Dein Review kommt zu einem interessanten Zeitpunkt, da ich gerade erst eine Rezension zum DSA 4.1 Basisbuch geschrieben habe und ich anhand des Reviews von dir erfreut feststellen kann, das ich so falsch nicht liegen kann. 😉 Achja… die Hürde hier Kommentare zu hinterlassen ist durch die Anmeldung sehr groß, das sollte noch geändert werden.

  3. Vielen Dank für die Rezi!
    Trotz der Länge war sie angenehm und informativ zu lesen.

    Auch ich komme zu einem ähnlichen Fazit bezüglich der Spielregeln. Was die Spielwelt Aventurien angeht, muss ich sagen, dass dies nun mal eine absolut subjektive Frage nach dem individuellen Vorlieben des Einzelnen sind.
    Aventurien hat eine spezielle Note und die wird von sehr vielen Rollenspielern geschätzt – das läßt sich nicht leugnen, ganz im Gegenteil.
    Als „eine der besten Spielwelten“ überhaupt, würde ich Aventurien allerdings nicht bewerten. Dazu fallen mir spontan zu viele Settings [Earthdawn, Fading Suns, Ebberon, Dark Sun, Dragonlance, …] ein, die ich für gelungener und interessanter halte.
    Aber wie gesagt: Das ist eine Frage des individuellen Geschmacks.

    Und damit sollte das Fazit lauten:
    Regeln: pfui!
    Setting: Geschmackssache!

  4. Hallo Jan!

    Auch wir bespielen inzwischen Aventurien z. T. (in einer von mehreren Gruppen) mit anderen Regeln.
    Wir haben nach jahrelangem Selbstentwickeln (umfangreiche Hausregeln zu DSA 3; mehrere umfangreiche Fassungen zu DSA 4 und DSA 4.1) letztendlich dann eingesehen, dass es nichts nützt 1000 Dinge zu regeln, wenn – wie Du treffend geschrieben hast – die intuitive Erfassbarkeit für den Rest, den man noch nicht „umgeregelt“ hat, fehlt.
    Daher also – als klaren Bruch und Befreiungsschlag – heute mit den Regeln von Savage Worlds. Bis dato klappt’s.

  5. Nope, die Rezi ist von Thomas Michalski, bekennender Fan von Aventurien und den Regeln. Auch wenn er sich gerne Freiheiten im Hintergrund nimmt und die Regeln in der Anwendung nicht so eng sieht… *hüstel* Meine wird aber auch irgendwann in den nächsten Wochen freigeschaltet, Updates gibt es (mit ein paar Ausnahmen) immer Montags.

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